Bekenntnisse

Die SPD hat die Kraft – 

und der Gauck hat die Herrlichkeit

Nr. 536 – vom 16. März 2012
Nach dem verflossenen Super-Wahljahr wird nun auch das jetzige unverhofft so richtig super. Ganz aus Versehen – hoppla! – hat die Ex- und Hopposition in NRW ihrer Regierung eine Neuwahl geschenkt. Die FDP ist ganz stolz auf sich selber, weil sie diesmal nicht in letzter Minute umgefallen ist. Dabei wäre das auch nicht mehr möglich gewesen. Wohin, bitte sehr, hätte sie noch fallen können? Versenkt in die abgrundtiefe Bedeutungslosigkeit, tief drunten im finsteren Zwei-Prozent-Umfrageloch, pfeifen sich die wenigen Verbliebenen gegenseitig Mut zu. Soll heißen: Sie pfeifen auf dem letzten Loch, also auf sich selbst.

Die Obermacker der Bundes-SPD können inzwischen kaum noch laufen vor lauter Kraft. Die Kraft heißt mit Vornamen Hannelore. Sie soll nun die Sozis in NRW so richtig hochpäppeln, damit sich der frühere NRW-Wahlverlierer Peer Steinbrück zur Bundestagswahl 2013 zum Kraft-Protz aufmotzen kann. Schließlich hat ihn Helmut Schmidt schon einstimmig zum Kanzlerkandidaten ernannt. Nun wird allerdings schon in einigen Kommentaren spekuliert, daß die Düsseldorfer Hannelore im Fall eines NRW-Siegs die geeignetere Kandidatin sein würde. Für die SPD würde das den Bundestagswahlkampf erheblich verbilligen. Sie brauchte nur die Rest-Exemplare der CDU-Plakate erwerben, die bei der letzten Bundestagswahl landauf, landab gepostert wurden. Die CDU-Botschaft damals: „Wir haben die Kraft!“ Müßte nur noch ein SPD-Aufkleber drauf.


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Übermorgen steht erst einmal die Krönung des neuen deutschen Nationalheiligen an, auf daß er fürderhin unser gesalbtes Oberhaupt sei. Alle Parteien im Bundestag mit Ausnahme der Schmuddelkinder von der Links-Partei haben sich zu einer Nationalen Front zusammengeschlossen. Eine christlichgrünsozialdemokatische Einheitspartei geißelt jedwede schüchterne Kritik am Großen Gauck als pfuiteuflische Blasphemie.

Mag der auch jeden antikapitalistischen Protest als unsäglich albern verurteilen, ebenso wie er die Anti-Atombewegung als populistische Hysterie abtat ­– besonders seine Jünger bei den Grünen hochjauchzen, psalmierend in frommer Ekstase: „Er ist der Herr, unser Hirte! Und wird nichts mangeln außer am kritischen Verstand. Er ist der Präsident der Herzen. Da wollen wir gern auf unsere Hirne verzichten.“

Der Heilige Gauck ist sankrosankt. Und wehe, da schaut mal einer etwas tiefer in seine Stasi-Akte, wie es gerade Jakob Augstein in seiner Kolumne bei spiegel-online getan hat (meine Exegese im Wochenschauer vor drei Wochen erweiternd). Flammende Empörung lodert ihm entgegen. Bei der Anti-Nazi-Aktivistin Beate Klarsfeld ist das natürlich etwas ganz anderes. Da reicht jeder Aktenfurz aus, um sie in die Abgründe der Verdammnis zu verdonnern.

Im Gegensatz zu Gauck hatte man Frau Klarsfeld auch nicht zum Zapfenstreich für den von uns gegangenen Wulff geladen. Mußte man doch fürchten, daß der Zapfenstreich mit einem Backenstreich geendet hätte. Schade! Klarsfeld wäre ohnehin meine Wunschkandidatin. Würde man sie zur Präsidentin küren, bekämen wir mal eine schlagfertige Würdenträgerin, die während ihrer Amtszeit alle Hände voll zu tun hätte. An herrschenden Backpfeifengesichtern herrscht schließlich kein Mangel in dieser Republik. Hei, was wäre das für ein munteres Gewatsche!

Übrigens ist das neue Gaucksche Evangelium inzwischen bestsellernd auf allen Listen. Der Verlag hat es pünktlich zu seiner Nominierung auf den Markt geworfen. Ich habe diese Heilsbotschaft nicht nur gekauft, sondern sogar gelesen – mit der Absicht, es hier zu rezensieren. Doch dann las ich eine Besprechung des österreichischen Schriftstellers Robert Misik auf  seinem Internet-Blog (www.misik.at). Alles, was ich dazu zu sagen hätte, hat er da schon geschrieben. Deshalb hänge ich seinen Artikel hier einfach als Postskriptum an meine Kolumne.


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Bürger Gauck
und der Betrug mit der Freiheit
Von Robert Misik


Es ist so ein Buch, das ich unter normalen Umständen natürlich nicht zur Hand genommen hätte, nicht aus Desinteresse und schon gar nicht eines Widerwillen gegenüber dem Thema wegen, sondern einfach, weil ich mir vom Autor nicht gar so viel erwartet hätte. Dass ich es doch tat, hat zwei Gründe: Erstens, das Büchlein steht jetzt schon länger auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste. Zweitens, der Autor wird in ein paar Tagen deutscher Bundespräsident. Zwei Gründe, mal ein Auge reinzuwerfen. 

Bevor aber die inhaltliche Seite zur Sprache kommt, muss bei einem Buch dieser Art auch über Äußerlichkeiten geredet werden. Das Buch ist klein, sehr klein, wenn es noch ein DIN-Format für diese Kleinheit gibt, dann muss das so A-6 oder A-7 sein. Und es ist dünn, sehr dünn. Es hat 62 Seiten. Und von diesen 62 Seiten ist gefühlt jede dritte nicht bedruckt. Und die, die bedruckt sind, sind es nur in den unteren zwei Dritteln. Oben ist schön viel Weißraum. Sieht hübsch aus, gewiss, gibt dem Layout so eine Luftigkeit. Aber der Text in diesem Buch ist etwa so lang wie ein umfangreicherer „Zeit"-Artikel. Eine Schriftsorte also, für die ein geübter Schreiber zwei Tage braucht. Man muss das dem Herrn nicht vorwerfen: Schnell lesbare Pamphlete dieser Art verkaufen sich gerade sehr gut, seitdem Stephan Hessel seinen „Empört Euch"-Besteller gelandet hat. Allerdings nimmt Herr Hessel für sein Manifest auch nur 3,99 Euro. Gaucks Buch geht für 10 Euro über den Ladentisch. Und das ist für sich schon ein starkes Stück. Man verspricht dem Leser äußerlich ein Buch, dafür kriegt er einen etwas größeren Artikel, aber zum Preis eines ordentlichen Taschenbuches. Man kann das Nepp nennen. Aber man kann auch Betrug dazu sagen. Gewiss, das hat sich Herr Gauck wohl nicht selber ausgedacht, das war wohl die Idee des Verlegers. Wenn aber dieses Buch, sagen wir, von 200.000 leichtgläubigen Kunden erstanden wird, und Herr Gauck 10 Prozent vom Verkaufspreis erhält - was beides eher konservativ geschätzt ist -, dann macht dieser Nepp Herrn Gauck um 200.000 Euro reicher. Na, da nimmt sich die Vorteilnahme von Herrn Wulff recht bescheiden dagegen aus, der sich gerade ein paar Urlaubstage sponsern ließ, und das auch nur von seinen Millionärsfreunden. Herr Gauck kassiert da geschickter ab, wohl auch von dem einen oder anderen Bürger, für den zehn Euro keine Peanuts sind. 

Nun könnte man dem gelassener gegenüber stehen, wenn in diesem Buch drei, vier Gedanken zu finden wären, die ihren Preis wert sind. Aber nichts davon. Schon auf der ersten Seite geht es los: 

„Es ist vielmehr meine tiefe Überzeugung, dass die Freiheit das Allerwichtigste im Zusammenleben ist und erst Freiheit unserer Gesellschaft Kultur, Substanz und Inhalt verleiht. Bei vielen Menschen aber, die mir im Land begegnen, vermute ich eine geheime Verfassung, deren virtueller Artikel 1 lautet: „Die Besitzstandswahrung ist unantastbar."

An sich wäre dieser erste Absatz schon Grund genug, das Buch in die Ecke zu pfeffern und sich nützlicherer Lektüre zuzuwenden. Man weiß jetzt schon: Man wird hier nur die neoliberale Agitation bekommen, die man auch von Herrn Henkel und anderen kennt. Das Wort „Besitzstandswahrung" ist dafür ein sicherer Signifikant. Denn das Wort ist ja ein Chiffre. Mit „Besitzstandswahrung" sind ja nicht, wie eigentlich naheliegend wäre, jene zehn Prozent der obersten Einkommensbezieher und Vermögensbesitzer gemeint, die rund 60 Prozent aller Finanz-, Immobilien- und Sachvermögen auf sich konzentrieren, und sich mit Zähnen und Klauen wehren, nur ja keinen Krümel abzugeben. Als „Besitzstandswahrer" gelten ja absurderweise immer jene, die gar nichts besitzen, sondern nur kleine Renten, niedrige Löhne, schlanke Stipendien oder Hartz-IV beziehen und die Unverfrorenheit haben, zu murren, wenn man ihnen wieder einmal nahelegt, ihre materielle Ausstattung müsse „flexibler" werden. 

Und diesen Leuten pflegen neokonservative Agitatoren vorzuhalten, sie dächten nur an materielle Gerechtigkeit, nie aber an die Freiheit. Jetzt also auch Gauck. Na, das hat ja extrem gefehlt. Dass „Freiheit für alle" unter unseren Umständen vielleicht bedeutet, eine ausreichend gleiche materielle Ausstattung, damit alle die gleichen Chancen haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen, ihre Talente zu entwickeln, ja, in Freiheit leben zu können, und dass umgekehrt grobe Ungleichheiten und eklatanter Mangel für manche extreme freiheitseinschränkende Wirkungen haben, das kommt dem Herrn Gauck gar nicht in den Sinn. Er argumentiert nicht einmal gegen diese These, wie seine neokonservativen Gesinnungsfreunde, er verliert nicht ein einziges Wort darüber. 

Das hat natürlich den Vorteil, dass kaum etwas, was er da in der Folge schreibt, falsch wäre, nein, das meiste ist überhaupt nicht falsch, sondern auf so aufreizend bekannte Weise richtig, dass sich kaum lohnt darüber ein Wort zu verlieren. 

Dass die Freiheit letztendlich das ist, was uns antreibt und begeistern kann. Freiheitspathos. Dass es da dieses eigentümliche Gesicht der Freiheit gibt, „wenn sie jung ist", also, wenn sich in Freiheitsbewegungen Bürger ihre Freiheit nehmen, dieses „anarchische Antlitz" von Revolte, Aufstand und Aufruhr, diese tatsächliche „Herrschaftsfreiheit"; oder, dass es den Menschen ausmacht, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und „nicht kommandiert zu werden". Und dass die Freiheit dann etwas an Leidenschaft verliert, wenn sie in ruhigen Bahnen ist. Auf dem Marsch durch die Ebene kriegt sie auch schwielige Füße. Der Leser nickt und nickt und nickt und am Ende ist er eingenickt.

Nach ein paar Mal umblättern kommt Gauck dann zu seinem zweiten Thema, das für ihn mit Freiheit verbunden ist: Die Verantwortung. 

Passt schon, wissen wir Bürger der hedonistischen Spaßgesellschaft gut genug, müssen wir nur in uns hineinhören, dass das individualistische „Ich mach mein Ding" uns Freiheit bringt, aber dass diese Freiheit auch oft recht schwer von jener Egozentrik zu unterscheiden ist, auf die ein lebenswertes Gemeinwesen schwer zu errichten ist. Gauck predigt also Freiheit in Verantwortung und erzählt uns schöne Geschichten von geradezu anheimelnder intellektueller Schlichtheit.

Etwa die: „Wenn ich darüber nachdenke, fällt mir immer meine jüngste Tochter ein. Noch vor zwei Jahren führte sie bewegte Klage über ihre ehemaligen Kommilitoninnen. Sie waren alle begeisterte Mütter geworden, während meine Tochter fand, das Leben dieser Personen sei in einer unakzeptablen Weise eingeschränkt... Nun, man ahnt es schon: Vor einem Jahr hat mir diese kostbare Frau mein jüngstes, mein neuntes Enkelkind geschenkt. Und jetzt überbietet sie alle anderen, die sie vorher kritisiert hat, an Hinwendung."

Schön, sie hat also in Freiheit ihre Egozentrik überwunden und ist jetzt verantwortliche Mutter, sie, die Frau, die eben noch „bewegte Klage" geführt hat, die „kostbare Person", die, kaum ist die bewegte Klage verstummt, schon Enkelkinder „schenkt" als wäre Weihnachten. Kitsch as Kitsch can. So geht das weiter in diesem Buch, endlos, wäre man beinahe versucht zu sagen, aber das stimmt natürlich nicht. Das gute an diesem Buch ist ja, wie gesagt, dass von der ersten Seite an gilt: Das Ende ist nah. 

An irgendeiner Stelle sagt Gauck, er habe das alles nicht aus klugen Büchern oder aus großen Gedichten, sondern aus seiner Lebenserfahrung. Das hatte man schon vorher befürchtet. Ein paar Bücher mit originellen Gedanken, ein paar Gedichte oder Romane, die die sprachliche Seite des Autorendaseins schulen, beides hätte dem Bürger Gauck in seinem Essayistenleben sicherlich gut getan. 

Gut, dass er aus dem Buchgeschäft in die Präsidentenbranche wechselt.