Buchholzens
 

Satire-

Letter


Der etwas andere
Kommentar

Martin Buchholz

Nr. 722 – vom 2. April 2024




Über Täter, Untaten und Untätige

Eine Vorbemerkung: Leider haben Sie durch einen Fehler heute schon einen Satire-Letter bekommen, der einen früheren Test enthielt. Das war mein Fehler. Ich bin inzwischen mein eigener Web-Master, komme aber noch nicht so richtig masterlich mit der Versendung der Newsletter klar. Bin eher kein Master, sondern bestenfalls ein Azubi mit einem erheblichen Web-Fehler (kann auch anders geschrieben werden).

 

I.

Ostern is over! Alle kruzifixen Prozessionen sind überstanden. Ich habe meine eigene kleine Prozession mit einem Osterspaziergang absolviert – quer durch den großen Garten, der meine erzgebirgische Dichter-Datsche umgibt. Besonders freute mich, dass die fünf mickrigen Eichen-Strunke, die ich im letzten Herbst auf einer Wiese in den Boden brachte, die winterliche Reh-Knabberei gut überstanden hatten. Schon zeigen sich, wenn auch schüchtern, erste Knospen.

 

Warum erzähle ich Ihnen das? Sie erwarten von mir schließlich keine Gartenkolumne. Der Anlass ist ein Gedicht von Bertolt Brecht, das mir bei der idyllischen Frühlingsbeschau meiner Aufforstungsversuche in den Sinn kam: 

„Was sind das für Zeiten, wo
 Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist

Weil es ein Schweigenüber so viele Untaten einschließt!“

 

Brecht schrieb das „An die Nachgeborenen“ – als politischer Flüchtling in den mittleren dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts. Bald 90 Jahre ist das her.

 

Und heute? Wie ist das mit dem Gespräch über Bäume? Ich muss Ihnen die Gräuel und Untaten nicht aufzählen, die derzeit die Nachrichten beherrschen und uns das Gemüt und den Verstand überlasten. Doch es sind genau diese Nachrichten, die plötzlich ein anderes menschen-vernichtendes Thema aus dem öffentlichen Bewusstsein mehr und mehr verdrängen – nämlich die drohende Klima-Apokalypse. Die ist unversehens zu einer Nebenbei-Sache geworden – möglicherweise auch irgendwie wichtig; aber leider hat im Augenblick Wichtigeres Vorrang. 

 

Fast habe ich den Eindruck, dass die vielen aktuellen Gräuel manchem Zyniker ganz gut in den reaktionären Kram passen, um abzulenken von seinen Untaten. Wenn Brecht von „Untaten“ sprach, meinte er damit die  die Verbrechen der Nazis. Doch er meinte mit „Untaten“ auch das Untätigsein, das Wegschauen, das Flüchten in eine realitätsferne Beschaulichkeit: Der Genuss üppiger Gartenfreuden, während nebenan oder fast nebenan die Schornsteine der staatlichen Vergasungs-Industrie zu rauchen begannen. (In dem Film „The Zone of Interest“ wird so eine grauenvolle Idylle gezeigt – ein gruselig-wunderschöner  Rosengarten direkt an der Mauer des Auschwitz-Krematoriums. Falls Sie diesen immens wichtigen Film noch nicht gesehen haben; er ist bei prime-video zu streamen.) 

 

Brecht konnte damals noch nichts wissen von der sich androhenden Katastrophe unserer Umwelt. Heute ist das Schweigen über Bäume fast schon zueinem Verbrechen geworden, weil es das Schweigen über die Untäigkeit einschließt, deren tödliche Folgen hunderttausende von Menschen sehr bald spüren werden.

 

II.

Noch einmal konkreter zum Thema „Untaten“. Mich wundert bei einigen unserer Kommentatoren (besonders beim Berliner „Tagesspiegel“ fällt mir das auf), dass sie bei jedweder Untat, die die Kriegsführung des rechtsextremistischen israelischen Kabinetts zu verantworten hat, so tun, als sei dies leider die notwendige, mithin unvermeidliche Folge des bestialischen Hamas-Wütens am 7. Oktober. Richtig ist: Ohne dieses für die Israelis schlimmste traumatische Massaker nach der Shoah wäre es zum jetzigen Krieg nicht gekommen. Doch schon in meiner Kolumne vom 24. Oktober habe ich geschrieben: „Ein bedingungsloses Ja zum Recht Israels, sich zu verteidigen gegen den Terror! Jedoch: Ein zweifelndes Aber, wenn dieses Recht jedwedes Unrecht heiligen sollte, das nebenbei – abgesehen von allen sonstigen kollateralen Nebenwirkungen – immer neue Generationen von Terroristen erzeugt.“

 

Ich bezog mich dabei auf ein Zitat des israelischen Verteidigungsministers (angeblich eher ein Liberaler im Schreckenskabinett von Netanjahu), der sich zu Beginn der israelischen Defensiv-Offensive vor die Weltöffentlichkeit hinstellte und verkündete: „Wir kämpfen gegen Tiere und wir werden entsprechend handeln: kein Strom, kein Essen, kein Wasser, kein Gas.“ Viele andere kaum fassbare Zitate aus diesem Zirkel sind inzwischen dazu gekommen. Einige von Netanjahus Koalitionspartnern fordern gar einen künftigen jüdischen Staat „from the river to the sea“. Die israelische Historikerin Fania Oz-Salzberger, Tochter des verstorbenen Schriftstellers Amos Oz, sprach dazu Klartext: „Umarmen Sie das israelische Volk! Und treten Sie der Regierung in den Arsch!“ 

(Ein sehr lesenswertes Interview:

https://www.spiegel.de/ausland/deutschland-und-der-israel-gaza-krieg-treten-sie-der-regierung-netanyahu-in-den-arsch-a-eb8e7574-1831-4d03-a86d-12126028fcb9)

 

Das „tierische“ Konzept der offen proklamierten mörderischen Unmenschlichkeit wird weiterhin gnadenlos durchgezogen gegen die  palästinensischen (noch) Überlebenden. Kaum Hilfslieferungen, kein Wasser, keine Nahrung, keine Medikamente. Hungersnöte und Seuchen drohen. Stattdessen Bomben, Bomben, Bomben! 

 

Wer immer in den letzten Wochen dieses grauenvolle Leid öffentlich beklagt hat, wurde in etlichen unserer Medien sofort des latenten oder gar offenen Antisemitismus angeklagt – besonders dann, wenn nicht zugleich der ursprüngliche Hamas-Terror mit erwähnt wurde. Man hatte in mantra-mäßiger Wiederholung zunächst immer wieder das ursprünglich Böse zu beschwören. (Ohne dessen Ursprünglichkeit kritisch zu hinterfragen, versteht sich, denn die Extremisten auf beiden Seiten brauchten sich gegenseitig für ihre jeweilige politische Existenz. Verkürzt gesagt: Ohne Hamas kein Netanjahu. Ohne Netanjahu keine Hamas in ihrer heutigen Form.) 

 

Alle möglichen Kriegsverbrechen sind aus dieser Sicht als verständliche und irgendwie entschuldbare Reaktionen auf den unsäglichen Hamas-Terror zu rechtfertigen. Im Unterton, der da als Subtext mitgemurmelt wird, hört sich in etwa so an: „Die Palästinenser sind schließlich selber schuld an dem, was ihnen jetzt passiert. Sie haben doch die Hamas immer unterstützt. Das ist die gerechte Strafe.“

 

III.

Seltsam, wie sich Geschichte manchmal wiederholt – ohne dieselbe konkrete Geschichte zu sein. Ich lese gerade ein englisches Buch über die Bombardierung deutscher Großstädte durch alliierte Bomber im Weltkrieg Germanisch Zwei (Randall Hansen: „Fire and Fury – The Allied Bombing of Germany“). Auch diese Bombardierungen hatten eine Vorgeschichte: Zuvor hatten die Deutschen 1940 mit dem „German Blitz“ eine blindwütige Bombenattacke auf weitgehend zivile Ziele in englischen Großstädten gestartet. Über 40.000 Menschen starben. Ziel der Attacken war es, die Briten „zu demoralisieren“, um bei einer kommenden Invasion kaum noch auf Widerstand zu stoßen. Nun, es kam genau umgekehrt. Was immer man im Krieg „Moral“ nennen mag; der Widerstandswille einer Nation in verzweifelter Lage war eher gestärkt.

 

Zum Glück für die Briten wurden die deutschen Bomber dann abgezogen, weil sie an anderen Fronten dringender gebraucht wurden. Dann kam die Rache: Von 1942 an begannen zunächst die Engländer, bald auch die Amerikaner, deutsche Großstädte großflächig zu bombardieren – und zwar ohne jede Rücksicht auf zivile Opfer. Im Gegenteil: Genau um diese Opfer ging es. Man wollte, das war das erklärte Ziel, diesmal die Deutschen „demoralisieren“, auf dass sie den Nazis und ihrem Führer resignativ abschwören würden. In einem Memorandum des Air-Force-Kommandos für den Premier Winston Churchill hieß es, es wären “the thickly populated towns where the morale effect of bombing will be chiefly felt…” (Es wären „die dicht besiedelten Städte, in denen die moralische Wirkung der Bombardierung am stärksten zu spüren sein wird.“)

 

Moralische Wirkung? Da der größte Teil des deutschen Volkes dem Führer ohnehin schon jede Art von vorstellbarer Moral geopfert hatte, gab es nicht mehr viel zu demoralisieren. Nur der eingeschworene Fanatismus wurde umso mehr geschürt, hoffend auf einen Endsieg mit irgendwelchen Wunderwaffen.

 

Verständlich, wenn damals jüdische Menschen, die den fanatischen deutschen Mördern entronnen waren, den Gedanken hatten: „Geschieht den Deutschen ganz recht! Letztlich sind sie doch alle Nazis!“ 

 

Und heute? Über 30.000 getötete Kinder, Frauen und Männer in Palästina. Und die vielen verhungernden, verdurstenden, an Seuchen verreckenden Menschen, die in dieser Schreckens-Statistik noch fehlen. Ist das der Hintergedanke: „Geschieht diesen Leuten doch ganz recht“? Eine Haltung, die in manchen Kommentaren und Stellungnahmen, wie mir scheint, unausgesprochen durchklingt.

 

Kann das, darf das unsere Haltung sein? Keine wirkliche Frage. Nur ein fragwürdiger Gedanke.

 

VI.

Oje! Und einmal mehr ist mir die Satire in diesem Satire-Letter gründlich misslungen. Dabei wollte ich doch nur ein frühlingsleichtes Essay über sanft knospende Eichen abliefern. Ein ganz harmloses Gespräch über Bäume? Geht wohl nicht in diesen Zeiten. Sorry!

 

PS. Der geplante Termin in der Dresdner „Herkuleskeule“ am 7. April musste leider verschoben werden – auf Freitag, den 27. September (Tel. 0351 49255). Fast alle anderen Frühjahrstermine sind ausverkauft. 

 

Karten gibt es noch für Sonnabend, den 18. Mai, im Hamburger „Lustspielhaus“ (Tel. 040 / 555 6 555 6).

 

Auch für die Dezember-Vorstellungen bei den „Wühlmäusen“ am 1. und 8.12. sind fast schon die Hälfte der jeweils über 500 Plätze gebucht. Ich erwähne das nur deshalb, damit nicht wieder in letzter Minute Beschwerden kommen.