Bekenntnisse

Hallo again!

Nr. 703 – vom 26. November 2022

Liebwerte Leserin, geschätzter Leser,
(falls es Sie überhaupt noch gibt; mich jedenfalls gibt noch),

nach langer, langer Zeit melde ich mich mal wieder bei Ihnen – etwas zerknirscht, weil ich Sie so lange vernachlässigt habe. Mich haben etliche herzerquickende Glückwünsche zu meinem 80. Geburtstag erreicht, der nun auch schon wieder einige Zeit zurückliegt. Und immer mal wieder kommen besorgte Anfragen, ob ich noch halbwegs gesund unter den Lebenden weile.

Allen, die mir geschrieben haben, sei gedankt. Ich war wirklich hin und her gerührt. Und ja, mir geht es ausgesprochen gut – die paar Zipperlein, die sich beim Älterwerden frecherweise ins Leben einmischen, zählen nicht.

Meine lange Sendepause hat mehrere Gründe:

Erstens brauchte ich eine gewisse Zeit, um mich von meinem jahrzehntelangen Bühnen-Dasein inklusive Tournee-Herumgurkerei mit dem ständigen Druck der Aktualisierung von Texten zu erholen (will sagen: mich wieder einzuholen, mein Leben einen Gang herunterzuschalten, das Tempo herauszunehmen).

Das soll kein nachträgliches Gejammer sein, denn es war (meist) eine tolle Zeit. Ich bin einer der nicht sehr zahlreichen glücklichen Menschen, die den Luxus genossen haben und noch genießen, fast immer nur das zu tun, was sie auch wirklich tun wollten – beruflich, aber auch privat (das überlappte sich in meinem Fall ohnehin, wie meine Liebste zuweilen seufzend anmerkt).

Aber gerade in Corona-Zeiten war ich heilfroh, dass ich dem Schicksal entronnen war, das vielen aktiven Kolleg:innen widerfuhr – nämlich, entweder gar nicht auftreten zu dürfen oder wenn, dann vor dreiviertel leerem Parkett, wo alles auf Abstand saß. Da Lachen nun einmal eine ebenso ansteckende Angelegenheit ist wie Gähnen (und Corona), konnte ich mir nur schwer vorstellen, wie die Kolleg:innen damit wohl zurecht kamen. Und auch heute, wo sich Theater wieder halbwegs füllen, wüßte ich kaum, wie ich in diesen wahnwitzigen Krisenzeiten ein irgendwie belustigendes, zugleich ernsthaftes satirisches Programm zustande hätte bringen sollen.

Will sagen – zugleich als Antwort auf eine Frage, die mir ebenfalls gelegentlich gestellt wird: Ich leide überhaupt nicht darunter, dass ich als satirischer Exhibitionist nicht mehr „vom Applaus umbrandet“ werde. Mir reichen die standing ovations, zu denen ich Harriet, mein Herzensweib, ehevertraglich verpflichtet habe, wenn ich am späten Vormittag zum Frühstück auftauche.

Nach diesem langen Erstens, also ein Zweitens: Ich brauchte auch die Muße, das Atemholen, um mich an neue Aufgaben heranzuwagen. Und ich war nicht lange faul: So habe ich die Geschichte der „Männin“ (einige erinnern sich vielleicht noch an das gelbe Buch über Erschöpfer und Erschöpfte) gründlich überarbeitet und neu geschrieben, auch in einer englischen Fassung. In letzter Zeit war es eine Art fiktiver, also stark gefakter Autobiographie, die mich an meinem elektronischen Hausaltar niederhocken ließ: Die Geschichte eines Kleinkinds in den letzten Nazi-Jahren. Eigentlich fertig, doch immer noch in der Bearbeitung. Titel: „Als Großvater mal ein Hakenkreuz kackte“. Und ein satirischer Krimi harrt schon seit einigen Jahren seiner Vollendung entgegen, wird aber immer wieder neu zusammengestrichen und umgeschrieben.

Kurz: Alles Projekte, die mich heftig in Bewegung halten und die ich vielleicht irgendwann in die Öffentlichkeit entlasse. Es ist für mich ein ganz neues Glück, ohne jeden Druck arbeiten zu können. Einer der Vorteile am Älterwerden ist ja, dass man sich selbst und anderen nicht ständig etwas beweisen muss. Meine gelegentlichen Ehrgeiz-Attacken sitze ich inzwischen still in einer Sofa-Ecke aus, bis sie dann wieder abklingen.

Soweit also mein Lagebericht zur aktuellen buchholzschen Befindlichkeit. Zugleich soll es eine Entschuldigung sein dafür, warum ich so lange nichts von mir lesen ließ. Tut mir furchtbar sorry!

Jedenfalls hab ich mir vorgenommen, Sie künftig wieder häufiger zu belästigen (so macht man sich ein „ä“ für ein „u“ vor).

Zugleich nutze ich die Gelegenheit frech, um Sie auf ein anderes Oeuvre aufmerksam zu machen, an dem ich als quasi ehrenamtlicher Vorwort-Schreiber nur am Rande beteiligt bin. Und zwar will ich Ihnen das Werk eines Freundes, des englischen Malers Alan Taylor, ans Hirn und ans Herz legen. Alan lebt und malt schon seit einigen Jahren in Berlin. Nun hat er seine Impressionen von dieser Stadt in einem Buch veröffentlicht. Außerdem gibt es seine Bilder auch als Poster und gerahmte Kunstdrucke in limitierter Auflage.

Alans digitale Kunstwerke, die manche aufgrund ihrer detaillierten Exaktheit mit Fotografien verwechseln, zeigen uns Berlin in einer ungewöhnlichen Sichtweise (ich habe das versucht, etwas präziser zu beschreiben im Vorwort, das im Anhang nachzulesen ist).

Und so eignen sich diese Arbeiten wunderbar auch als Geschenk (und das nicht nur Weihnachtszeit) besonders für Berliner:innen oder Ex-Berliner:innen in Eurem Freundes – und Verwandtenkreis.

Das Ganze ist kritisch zu besichtigen und dann hoffentlich auch zu bestellen unter:
www.urbanrealism.berlin

Mein Vorwort liest sich so:



Die Poesie des Berliner Alltags

Da schlendert ein Mensch durch eine ihm fremde Stadt. Er ist Engländer und die Stadt heißt Berlin. Er will die Stadt genauer in Augenschein nehmen und das geht nicht einfach so im Vorübergehen. Deshalb bleibt er immer wieder stehen und richtet sein Augenmerk auf Dinge, Menschen, Situationen, die es ihm wert scheinen, sie sich zu merken – anders gesagt: Er entdeckt Merk-Würdiges. (Und Merkwürdigkeiten hat diese Stadt bekanntlich reichlich zu bieten.)

Und da er ein Künstler ist, genauer ein Maler, ist es seine Gewohnheit, genauer hinzuschauen auf das, was er sieht. Dabei sieht er nicht mehr als das, was auch wir sehen könnten. Nur sehen wir vieles nicht, weil wir es meist übersehen. Flüchtige Augenblicke, die kein bleibendes Bild hinterlassen. „Vorbei, verweht, nie wieder“ – wie es bei Tucholsky heißt in seinem Gedicht „Augen in der Großstadt“.

Und dann kommt ein Bildermacher und macht durch den Blick seiner Augen solche Augen-Blicke auch für uns sichtbar. Alan Taylor heißt er, geboren in London. Zur Zeit lebt er in meiner Stadt, und er zeigt sie mir auf eine neue Weise. Ein Sight-Seeing der besonderen Art. Er zeigt eigentlich „nichts Besonderes“ und macht dabei zugleich das Sonderbare sichtbar.

Alltägliche, scheinbar unbedeutende Beobachtungen – oft aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachtet –, die er malerisch verdichtet zu einer unaufdringlichen und unpathetischen Poesie. Zwar nennt sich die Kunstrichtung, die seine digitalen Gemälde geprägt hat, ganz nüchtern „Photorealism“, doch bei Alan Taylor ist es ein Realismus, der gewissermaßen hinter das Offensichtliche schaut und den seltsamen Zauber des scheinbar Banalen durchscheinen läßt.

Und so erhalten wir Zugang zu einem meist vergessenen Wunderland – oder, um es etwas anders auszudrücken, mit einer anderen englischen Entdeckerin, einem Mädchen namens Alice: Es gibt eine Welt auf der anderen Seite des Spiegels – auch hinter der Oberfläche von Alans Gemälden.

Doch Bilder sagen mehr als alle Vor-Worte. Ich empfehle Ihnen dieses ungewöhnliche Berliner Bilderbuch zur gefälligen Ansicht. Das Hingucken mit möglichst offenen Augen lohnt sich.