Bekenntnisse

Hallo und guten Tag!

Nr. 711 – vom 27. April 2023

I.
Dieser Satire-Letter ist nicht so sonderlich satirisch, weil ich vielleicht etwas zu bedenklich in meiner eigenen Vergangenheit herumstolpere, in der ein gewisser Harry Belafonte eine Rolle gespielt hat. Ich habe ihn nie persönlich getroffen – oder genauer: Er hat mich niemals persönlich getroffen. Ich zumindest war ganz persönlich bei all seinen Shows in Berlin anwesend – und er ebenso. Aber er hat von mir keine besondere Kenntnis genommen – vielleicht deshalb, weil außer mir noch einige tausend anderer Fans und Faninnen vor ihm saßen.

Nun muss ich Ihnen nichts erzählen über den politischen Menschen Harry Belafonte. Was ich Ihnen erzählen will, ist, wie dieser Harry Belafonte mich mit-politisiert hat in meiner Pubertät. Nicht er allein, da gab es etliche andere Anstöße und Abstößigkeiten. Doch davon soll hier nicht die Rede sein. Vielleicht irgendwann später einmal.
 
II.
Harry Belafonte ist tot. Gestorben mit 96 Jahren. Nun ja, das ist ein Alter, in dem man es sich schon mal erlauben kann zu sterben. „Daylight come and me wanna go home.” Traurig macht es mich trotzdem.

Verzeihen Sie mir eine nostalgische Reminiszenz. Ich war vierzehn Jahre alt, als der „Banana Boat Song“ in alten West-Berliner Radiotagen auch die „Schlager der Woche“ erreichte, eine Hit-Parade des RIAS-Berlin.

Als ich diesen Song zum ersten Mal hörte, schrie ich: „Hört gefälligst zu.“ Meine zwei Schwestern Maria und Sigrid und ich saßen an einem Sommerabend auf unserem Balkon in der Weddinger Sansibar-Straße und halfen meiner Mutter bei der Heimarbeit. Meine Mutter war eigentlich Krankenschwester, doch irgendwann war sie wohl selber krankgeschrieben. Jedenfalls verdingte sie sich, um ihre drei Gören und sich selbst irgendwie durchzubringen, zu stumpfer Akkord-Sklaverei.

Sie holte jeden Morgen, ihr Fahrrad schiebend, aus einer etlichen Kilometer entfernten Fabrik Pakete voller Glühstrümpfe ab. Diese Glühstrümpfe wurden für die damaligen Gaslaternen in den Berliner Straßen benötigt – und nicht nur in Berlin, sondern all over the western gas-lighted world. Allerdings mussten diese Glühstrümpfe zwecks allgemeinen Erglühens zuerst gesäumt werden. Dafür gab es Asbestfäden und Spezial-Nadeln. So wurden diese Strümpfe (eher sackartige Socken) mit einer Naht versehen. Meine Mutter war zu jener Zeit ständig mit der Asbest-Näherei beschäftigt (und hat sich deswegen Jahre später zu Tode gekeucht). Wir Kinder mussten, so oft wir nur konnten, mitsäumen. Ein Privileg, denn meine Mutter erlaubte uns, in dieser saum-seligen Zeit dem Radio zu lauschen. Sie hatte gerade auf Abzahlung mit einer 24-Monats-Rate ein hyper-modernes Radio erstanden. Das Gerät hatte ein „magisches Auge“. Das war ein grünglotzendes kreisrundes Ding, das die Genauigkeit bei der Sender-Einstellung anzeigen sollte.

Ich brauchte kein magisches Auge, denn ich hatte ein magisches Ohr – immer dann, wenn dieser Aufschrei „Day-O“ erklang.

In einer Zeitung hatte ich damals gelesen, dass der von Belafonte angesungene „Hey, Mister Tallyman“ der Ladungskontrolleur war, welcher die Anzahl der „Hände“ an einem „bunch“ zählte, also die Menge der hand-verladenen Bananenstauden.
So wie meine Mutter am nächsten Morgen („Day, O!“) in der Fabrik bezahlt wurde nach der Anzahl der Kartons von umgenähten Glühstrümpfen. „Six hand, seven hand, eight hand, bunch!“

Das haben viele gewiss damals nicht so gehört wie ich, und auch mir war es zu der Zeit eher unterschwellig zu Gehör gekommen, was Belafonte da sang. Und dazu diese Stimme!
 
II.
Als ich dann zum ersten Mal heiratete, 21 Jahre alt, haben meine damalige Frau (und meine heutige liebe Freundin) Ingrid und ich von dem wenigen Geld, was wir hatten, uns einen Plattenspieler gekauft – lange bevor wir uns einen Fernseher leisten konnten. Zu den ersten vier oder fünf Wunsch-Schallplatten gehörte eine LP von Harry Belafonte.

Die anderen LPs waren, soweit ich mich erinnere, Aufnahmen von „Porgy and Bess“ mit Louis Armstrong und Ella Fitzgerald, zudem die Jupiter-Symphonie von Mozart, die erste Scheibe von den Beatles und eine Platte mit den großen Walzern von Johann Strauß.

Ich gebe zu, musik-geschichtlich war ich schon immer etwas zurückgeblieben, irgendwo abgeblockt zwischen John Coltrane und Franz Schubert. Für das mehr-oder-minder aufregende Rock’n’Roll meines privaten wie politischen Lebens, beide ohnehin untrennbar, brauchte ich damals keine entsprechende Begleitmusik.
 
III.
Wir hatten damals mangels Penunse noch keine richtigen Möbel und kein Bett. Wir schliefen auf einem Schafwollteppich. Und zuweilen nach einer gewissen geschlechtlichen Erregung holten uns entweder Mozart oder Johann Strauß oder Harry Belafonte wieder auf den Teppich zurück – oder sie ließen uns noch einmal über den Teppich davon schweben. Schönste Erinnerung: Einfach nur daliegen und zuhören. So wurde Harry gelegentlich unser Beischläfer.

Glücklicherweise war er nur audio-virtuell vorhanden, ansonsten wäre ich möglicherweise abgestunken gegen diese „erotische Animalität“, die er ausstrahlte, zumindest einigen rassistisch-neidvollen Kommentaren jener Zeit zufolge.
 
IV.
„Day, O!“ Die Begrüßung eines neuen Tages nach einer langen, viel zu langen durchgeschufteten Nacht.

Harry Belafonte, als Showstar ohnehin kein Klischee fürchtend, sagte mal: „Jeder neue Tag, den wir noch erleben, ist es wert, erlebt zu werden.“

In diesem Sinne grüße ich Sie mit einem hoffnungsvollen „Day, O“!