Bekenntnisse

Ukraine und Krieg,
also bitte sehr, reden wir darüber

Nr. 712 – vom 9. Mai 2023

I.
Mich haben einige Anfragen erreicht, ob ich denn gar keine Meinung zum Ukraine-Krieg hätte, obwohl ich doch ansonsten zu allem und jedem eine Ansicht absondern würde. Nun ist dieses „ansonsten“ schon mal eine falsche Vermutung, weil ich mich keineswegs bemüßigt und schon gar nicht belustigt fühle, zu jedem beliebigen Thema, das in den Modejournalen des Zeitgeistes kurzfristig hochgeschleimt wird, auch noch eine eigene Meinungsabsonderung hinzu zu sabbeln.

Beim Thema Ukraine-Krieg ist das etwas anderes. Ich habe dazu nicht nur eine Meinung, sondern gleich zwei. Und beide sind im Widerstreit miteinander. Eigentlich bin ich gegen die Lieferung deutscher Panzer und anderer Waffensysteme in die Ukraine, doch andererseits halte ich sie für notwendig. Wie ich aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis weiß, geht es so mancher und so manchem ebenso: Eine Haltung im Widerspruch mit sich selbst. Eine zwiespältige Haltung.

II.
Dieses vor über einem Jahr überfallene Land, die Ukraine, ist nun wahrlich kein leuchtendes Vorbild für Demokratie, eher eine trübe Funzel im Zwielicht von Korruption und gelegentlicher altfaschistischer Helden-Verehrung (ich habe in meinen früheren Kolumnen mehrfach und ausführlich darüber berichtet). ABER (und zwar ein sehr großes Aber) die Ukraine ist ein souveränes Land am Rande Europas. Das grundsätzliche europäische Friedens-Einverständnis nach dem Zweiten Weltkrieg hieß: Keinem Land darf es erlaubt sein, in ein anderes Land einzumarschieren, um seine Grenzen auszuweiten unter welch historisch vorgeschobenen Gründen auch immer. Wie mühsam konnte zum Beispiel in der westdeutschen Nachkriegs-Republik die Anerkennung der Oder-Neiße-Linie gegen den Widerstand von CDU/CSU und anderer noch rechteren Parteien, durchgesetzt werden. Einige heimatbewusste AfD-Reichsbürger und Rest-Nazis aus Vertriebenen-Verbänden würden noch heute den Einsatz von Leopard-2-Panzern befürworten, allerdings nicht gegen Russland, sondern gegen Polen, um Ostpreußen zurückzuerobern.

III.
Ich schreibe dies in der späten Nacht des 8. Mai 2023 – ein Jahrestag, der mehr und mehr in Vergessenheit gerät, der „Tag der Befreiung“, an dem sich die wenigsten Deutschen nach 1945 wirklich befreit fühlten. Allzu lange waren sie Mitläufer und Mitschreier gewesen, wenn es um das mörderische „Heil“ ging. Eine Gemeinschaft von Wegguckern, wenn plötzlich in ihrer Nachbarschaft jüdische Mitbürger aus deren Wohnungen auf Nimmerwiedersehen verschwanden. Untätige Mittäter im scheinbar harmlosesten Fall. Meine Eltern gehörten dazu. Ihre Eltern, Großeltern, Urgroßeltern vermutlich auch. Was sollte man denen nachträglich vorwerfen? Sie haben doch nichts gemacht. „Man konnte doch nichts machen.“ Also hat man mitgemacht.

Obwohl der Putin-Imperialismus mit den Ungeheuerlichkeiten des Dritten Reichs unvergleichbar ist, bleibt zumindest eine Parallele augenscheinlich: Die Hitler-Deutschen (und das waren fast alle) haben 1939 ein souveränes Land in Europa überfallen, erst das eine, dann das andere und dann noch eins und dann noch eins – die Vision eines Großdeutschlands vor den imperialistischen Augen. Andererseits heute: Die Putin-Russen (und das sind offenbar mal wieder die meisten) haben im letzten Jahr ein souveränes Land überfallen – die alte imperialistische Vision eines Großrussischen Reiches in den alten sowjetischen Grenzen vor Augen. Erst eins, dann zwei, dann drei, dann vier… dann steht der Putin vor der Tür.

IV.
Also, liebe Friedensfeund:innen, zu denen ich mich selber zähle, kommen wir zu der Frage: Warum keine Friedensverhandlungen zwischen den Kriegsparteien, damit das mörderische Grauen in den ostukrainischen Schützengräben endlich ein Ende hat?

Bleibt das Problem: Damit etwas verhandelt werden kann, muss ja zumindest klar sein, worüber überhaupt verhandelt werden könnte? Zurzeit scheint nur eine Verhandlungsmöglichkeit halbwegs plausibel: Die Unterwerfung unter den Okkupanten, der einen großen Teil des eroberten Landes für sich beansprucht und sich den Rest des Landes für spätere Zeiten aufspart.

Und wieder ist es meine historische Erinnerung, die mir störend im Weg steht: Warum haben eigentlich Frankreich, England und andere Teile des damaligen Rest-Europas, später auch die USA, sich so strikt geweigert, mit Adolf Hitler Friedensgespräche zu führen? Warum waren diese westlichen Staatsmänner nicht zu der Einsicht zu bewegen, dass man Hitler und den Seinen, also den gesamten Unsrigen, einen „gesichtswahrenden Ausweg“ bieten müsste? Natürlich wollte auch damals niemand leugnen, dass Hitler mit dem Überfall auf Polen einen brutalen Angriffskrieg gegen ein souveränes Land begonnen hatte (und nach diesem Beginn nahm er sich dann Land für Land vor). Aber das sollte doch, bitte sehr, auf Dauer kein Grund sein, jede Gesprächsbereitschaft zu verweigern, die eine diplomatische Befriedung (gewissermaßen ein „apeacement“) vielleicht möglich gemacht hätte.

Klingt irgendwie irre, ich weiß. Aber es gab seit 1939 bis in die späten Monate von 1942 besonders in England und in den USA durchaus einflussreiche Stimmen, links wie rechts im politischen Spektrum, die diese Forderungen nach Friedens-Initiativen, das Verlangen nach Verhandlungen mit den Nazis lautstark propagierten. Und das geschah zumindest bei etlichen aus ehrlicher Sorge und Angst, dass das Morden sonst kein Ende nehmen würde. Gott-oder-wem-auch-immer-sei-Dank hat man auf diese Apologeten eines scheinbaren Friedens nicht gehört.

V.
Mehrere Argumente zur Verteidigung oder zumindest zum bemühten Verständnis der heutigen Putin-Aggression bekommt man dann in Diskussionen zu hören. Erstens: Warum regt man sich so über Putin auf? Was haben denn die Amerikaner nicht alles schon verbrochen? Grenada, Vietnam, Chile, Irak. (Es kann jetzt sein, dass ich einige US-Kriegsverbrechen vergessen habe; ich habe in meinen über 700 Kolumnen über alle berichtet.) Ganz zu schweigen vom US-kommandierten und völkerrechtswidrigen rot-grünen Angriff auf Serbien 1999, an dem zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche Bombenflugzeuge ganze Belgrader Stadtteile in Schutt und Asche zerlegten (auch darüber habe ich ausführlich geschrieben und auf der Bühne geredet).

Die bizarre Logik hinter dieser Argumentation lautet im Klartext: Wenn einer sich wie ein Verbrecher verhält, kann man es schließlich einem anderen Verbrecher nicht verwehren, sich ähnlich zu verhalten. Eine seltsame Nachsicht, für die mir jedes Verständnis fehlt.

VI.
Rechtfertigungsversuch Nummer Zwei: Schließlich hat die NATO in vielen amtlich dokumentierten Absprachen (die dann aber nicht völkerrechtlich schriftlich festgelegt wurden) den Russen nach dem Zerfall des sowjetischen Reiches und des Warschauer Paktes zugesagt, dass sie ihr Einflussgebiet nicht weiter in Richtung Osten ausweiten würden. Sie hat es dann doch getan, wie wir wissen. Auch ich hielt das in meinen Kolumnen für eine unvernünftige Provokation Russlands. Nach der Aggression Putins, die ich niemals für möglich gehalten hätte, hat sich meine Meinung zu dieser Nato-Umkreisung tatsächlich verändert. Dass die Nato-Integration dieser Länder notwendig war, scheint mir nach der von Putin offen verkündeten angestrebten Re-Sowjetisierung seines verlorenen Reiches offenkundig.

VII.
Punkt drei der Argumentation: Haben wir es nicht sowjetischen Soldaten zu verdanken, dass sie einst im heroischen Kampf gegen deutsche Panzer entscheidend dazu beigetragen haben, dass wir in Deutschland heute in einem ziemlich sicheren Frieden leben? Und jetzt sollen dort wieder deutsche Panzer rollen? Ausgerechnet auf dem Gebiet der Ukraine, wo vor vielen Jahrzehnten die heftigsten Panzerschlachten zwischen der Roten Armee und der deutschen Wehrmacht stattfanden? Mein Vater war einer der damaligen deutschen Kombattanten, 1943 „gefallen für Führer, Volk und Vaterland“ in der Nähe von Dnipropetrowsk.

Was soll ich dazu sagen? Ich war in der Zeit meines bewussten politischen Lebens immer ein Pazifist und bin es noch heute, allerdings mit einer bellizistischen Einschränkung: Mir ist klar, gerade heute am 8. Mai, dass das Nazi-Reich niemals vernichtetet worden wäre, wenn nicht Millionen von sowjetischen Soldaten, davon Millionen auch aus der Ukraine, dafür gekämpft hätten und viele, viele Millionen von ihnen dafür gestorben wären – neben so vielen Hunderttausenden von amerikanischen, englischen, französischen und sonstigen Kämpfern. All diesen unzähligen, vielfach längst vergessenen Toten verdanke ich mein heutiges Überleben in einem demokratischen Deutschland. Und ich danke ihnen auch meine Überzeugung, dass es auf diesem Kontinent keine neue Diktatur geben darf.

VIII.
Ja, ich bin gegen diesen Krieg. Welcher halbwegs mitdenkende und mitfühlende Mensch wäre das nicht. Doch Putin hat den Ukrainern diesen Krieg nun einmal aufgezwungen. Und so kann ich nicht die Gegenwehr der Ukraine gegen den russischen Imperialismus ablehnen, so wenig wie ich die Gegenwehr der Vietnamesen ablehnen konnte, als die sich gegen den amerikanischen Imperialismus verteidigten. Und ohne die westlichen Waffensysteme wäre die Verteidigung der Ukraine nicht möglich. Ich bleibe bei meinen zwei gegensätzlichen Meinungen, wissend, dass beide irgendwie richtig sind. Und ich danke Ihnen, dass Sie mir bis hierher geduldig zugehört haben, auch wenn Sie möglicherweise bessere Widerworte haben. Ihre eigenen Nachdenklichkeiten erwarte ich unter kontakt@martin-buchholz.de.