Bekenntnisse

Rammstein und die Klammhirne
im deutschen Feuilleton

Nr. 713 – vom 10. Juni 2023

I.
Ja, ich melde mich mal wieder nach einer längeren Pause. Es ist nicht so, dass ich in der Zwischenzeit schreibfaul gewesen wäre. Das können immerhin die mehr als vierzig Leserinnen und Leser bestätigen, die mir als Reaktion auf die letzte Kolumne zu meiner persönlichen Ukraine-Krise geschrieben haben. Allen habe ich geantwortet. (Verzeihen Sie mir, wenn ich das in Zukunft nicht immer tun werde; es ist einfach zu aufwendig.) In fast allen Zuschriften wurde mir gedankt, dass ich die zwiespältigen Gefühle, die die meisten von uns bei diesem Ukraine-Thema verspüren, zu formulieren versucht habe. Die zwei Seelen in meiner Brust (beide vorübergehende Untermieter) fühlten sich von diesem Zuspruch etwas erleichtert. Es gab auch vier kritische Einwände (in der Überlegung, ob nicht der Westen Russland in eine extreme Verteidigungs-Position gedrängt hätte), aber der Ton dieser Widersprüche war jeweils sehr freundlich und in keiner Weise verkniffen-dogmatisch.

Ich sage: Danke! Ist doch ein schönes Gefühl, dass es irgendwo da draußen einige tausend mit-denkende und mit-fühlende Wesen gibt, mit denen ich manchmal mehr, manchmal minder auf einer Wellenlänge funke.

II.
Themenwechsel: Ich habe mich ja schon in der vorletzten Kolumne zum Tod von Harry Belafonte als musikalischer Uralt-Oldie geoutet. Am letzten Sonntag waren wir, also icke, Frau und Freundin, nahe unserer erzgebirgischen Sommer-Datsche zu Gehör bei der Eröffnung des Augustusburger Musik-Sommers (sehr zu empfehlen: https://www.augustusburger-musiksommer.de). Ein tolles jugendliches Orchester spielte an zwei Abenden vor etwa 1.300 Menschen der überfüllten Petri-Kirche Stücke früherer englischer Komponisten, die man sonst selten zu hören bekommt. Großartige Musik, von über fünfzig sehr sympathischen jungen Musikantinnen nebst Musikanten eindrucksvoll vorgespielt. Allerdings waren auch zwei Stücke dabei, die mir allzu sehr ins Trommelfell dröhnten. Zu viel bombastisches Getöne: Pauken-Pathos, Trompeten-Trara, Gong-Gedonner und die üblichen musikalischen Verdächtigen, wenn es um marschmäßige Triumphmusik geht. Und davon ist die englische Musik-Tradition nicht gerade arm. Das wissen alle, die einmal bei der BBC die wahnwitzig-britische „Last Night at the Proms“ in der Londoner Royal Albert Hall miterhört und miterlitten haben (gibt‘s auch alljährlich als WDR-Übertragung).

Einerseits bin ich immer wieder fasziniert von dieser Mischung aus unionflagmäßig umwedeltem Karneval, von Edward Elgars „Pomp and Circumstances Marches“ sowie von allen sonstigen verfügbaren britischen Hymnen (und davon gibt’s einige; die absurdeste nennt sich „Jerusalem“). Andererseits kommt mir dabei gelegentlich Wilhelm Busch in den Sinn mit seiner a-tonalen Musik-Maulerei:

„Musik wird störend oft empfunden, dieweil sie mit Geräusch verbunden.“

Womit wir nach langer Vorrede endlich bei jenem aktuellen Thema sind, um das es in diesen Tagen geht. Also:

III.
Ich vermute, dass Till Lindemann nicht allzu enttäuscht sein wird, wenn ich in der nächsten Woche nicht dabei bin, wenn seine Show-Orgie gleich dreimal im Berliner Olympia-Stadion läuft. Wie ich gelesen habe, sind auch ohne mich genügend Leute da.

Und Till Lindemann weiß garantiert nicht, welche very important person ihm da als möglicher Ehrengast entgehen wird. Ich fürchte, dass er keine Ahnung hat, wer ich bin. Okay, darüber will ich nicht klagen. Diese Ignoranz beruhte bis vor kurzem auf Gegenseitigkeit. Ich wusste auch nicht, wer Till Lindemann ist, bis ich dann aus einer süddeutschen Postille erfuhr, dass er bei einer offenbar weltberühmten Band namens „Rammelstein“ (oder so ähnlich) der Vor-Rammler wäre.

Okay, das gehört offenbar zum Rock’n’Fuck-Gewerbe. Macker, die sich ihre Bäckstäitsch-Potenz an meist willigen Dummköpfchen beweisen müssen. So weit, so doof! Im Fall des Herrn Lindemann aber gehen die anklagenden Behauptungen weiter: Es wäre für so einen großen Künstler ermüdend gewesen, sich nach der anstrengenden Show mit den jungen Dingern, die ihm zugeführt wurden, auch noch bei einem erotischen Vorspiel aufzuhalten. Deshalb habe er sie, zwecks einfacherer Ein- und Ausführung vorher k.o-betropft. Angeblich, versteht sich, denn Till Lindemann hat da eine ganz sichere Unschuldsvermutung, was ihn selbst betrifft.

Und da er auch ein Dichter ist, dessen Poeme der Feuilleton-Chef der „Süddeutschen“ bei Kiepenheuer und Witsch herausgegeben hat, kann man seine stille, sehr stille Obsession mit einer noch stilleren Sex-Püppi auch nachlesen. Ein einschläferndes Gute-Nacht-Gedicht, das zu einem bösen Erwachen führt, zumindest für eine der zwei Beteiligten:

„Ich schlafe gerne mit dir, wenn du schläfst.
Wenn du dich überhaupt nicht regst.
Mund ist offen, Augen zu.
Der ganze Körper ist in Ruhe.
Kann dich überall anfassen.
Schlaf gerne mit dir, wenn du träumst.
Und genau so soll das sein (so soll das sein so macht es Spaß).
Etwas Rohypnol im Wein (etwas Rohypnol ins Glas).
Kannst dich gar nicht mehr bewegen.
Und du schläfst, es ist ein Segen.“

Also bitte sehr, was soll die Aufregung? Das ist Kunst, wer wollte das bezweifeln. Diese lindemännlichen Fantasien jedenfalls wurden von einigen Rezensenten nahezu hymnisch gefeiert als lyrische Expressionen eines unorthodoxen Genies. Offenbar hatten diese Poesie-Interpreten auch ein bisschen zuviel Rohypnol im Glas. Sowas führt meist zu einem schweren Rammstein vorm Schädel.

IV.
Sehr erfolgreich war dieser Till auch in seinen Shows, wenn er rittlings mit gespreizten Beinen auf einer Art riesiger Penis-Kanone saß, aus deren Rohr ein weißer Pulvernebel ejakulierte. Dazu sang er:

„You've got a pussy, I have a dick.
So what's the problem? Let's do it quick.
So take me now before it's too late,
life's too short, so I can't wait“

Eine klare Quickie-Ansage, gewissermaßen volles Rohr, die plötzlich von Feuilletonisten, die ihn zeitweise sogar als neuen Gottfried Benn hofiert haben, als unter aller Kanone empfunden wird.

V.
Das erinnert mich an meine eigene frühe Lyrik, als ich mit meinem Freund, dem Karikaturisten Rainer Hachfeld, vor über fünfzig Jahren ein gereimtes Kinderbuch veröffentlicht habe, in dem Rainer folgenden Schmuddelvers auch noch schamlos illustriert hat:

„Das ist der kleine Unterschied:
Hier die Scheide, da das Glied.
Das Glied passt in die Scheide.
Da freu’n sich alle beide.“

Die CDU hat schon damals schwer aufgejault ob dieser angeblich sexual-perversen Indoktrination vermeintlich unschuldiger Kinderpsychen. Zu meiner Rechtfertigung sei gesagt, dass ich diese Reime niemals gesungen habe, was vielleicht auch daran lag, dass mir bei meinen späteren Auftritten keine Penis-Kanone zur Verfügung stand.

IV.
Und das ist vielleicht auch der Grund, weshalb ich aus purem quittegelben Neid nie einer „Rammstein“-Orgie beigewohnt habe. Wobei sich mein Neid auch auf die Größe der Auftrittsstätte bezog. Neulich hatte ich deshalb einen Disput mit meiner Frau, die mich früher als meine Mänätscherin an allerhand seltsame Verunstaltungsorte verhökert hat.

Ich, ziemlich stinkig: „Warum hast du mich nie im Berliner Olympia-Stadion auftreten lassen? Zumindest als Vorgruppe für Mario Barth?“
Sie, wie üblich brutal: „Martin, mit deinen noch nicht verstorbenen kärglichen Fans beiderlei Geschlechts hätten wir bestenfalls die Gaststätte am Olympia-Stadion halbwegs gefüllt.“

So wird hinter Ihrem Rücken schlecht über Sie geredet. Nicht von mir, sondern von meinem bösen Weib.