Bekenntnisse

Remember, remember
den neunten November

Nr. 719 – vom 7. November 2023

I.
„Aus meinen gestammelten Werken“. Das ist der Titel meiner erlesenen Veranstaltung, die ich am 9. November im Hamburger „Lustspielhaus“ zelebriere (Tel. 040 55565556) und am Tag darauf, also am Freitag, im Zehlendorfer „Bali“-Kino (Telefon: 030 8114678). Ich muß Ihnen allerdings gleich zu Beginn ein Geständnis machen, um allen Plagiats-Jägern zuvorzukommen (allerdings führte ich nie einen Doktortitel, auch nicht humoris causa ).

Hier also die skandalöse Enthüllung: Den Titel habe ich geklaut. „Aus meinen gestammelten Werken“ – so hieß einst das letzte Programm des großen satirischen Wortwerkers Werner Finck. Ich habe ihn noch mit dieser grandios pointen-verstotternden Performance auf der Bühne erlebt. Mir ist in Erinnerung geblieben, wie er da aus einer Satire-Kolumne zitierte, die er während der Olympiade im August 1936 im „Berliner Tageblatt“ veröffentlich hatte. Damals war der schwarze Sprinter Jesse Owens mit vier Goldmedaillen der erfolgreichste Sportler im Berliner Olympiastadium gewesen, und die Erfolge dieses Schwarzen waren für die Braunen eine unerhörte Provokation. Finck machte sich damals Gedanken darüber, wie die Nazi-Filmerin Leni Riefenstahl das wohl in ihrer Propaganda-Doku über die Olympischen Spiele verarbeiten würde. Er erinnerte daran, dass sie das auf Zelluloid gebannte Filmmaterial im Schneideraum zunächst als Negativ sehen würde, wo sich schwarz und weiß verkehren. Finck schrieb:

„Und plötzlich sieht sie’s negativ, wie positiv der Neger lief. Im Negativ werden wir gerächt: Ganz vorn, Meter voraus, läuft der weiße Mann, weit hinten kommen die Schwarzen!“

Das war seine letzte Kolumne in dieser Zeitung, weil das Blatt aufgrund dieser Kolumne am nächsten Tag endgültig verboten wurde. Und ich glaube nicht, dass sich Goebbels an der Verwendung des N-Wortes gestört hat, das heute zu Recht verpönt ist.

II.
Dies ist eine Kolumne der Erinnerungen. Der bevorstehende  9. November lädt allerdings dazu ein. Und nicht nur wegen des Mauerfalls vor 34 Jahren. Zum Beispiel wurde vor 175 Jahren an diesem Tag, am 9. November 1848, die erste demokratische Revolution in diesem Land endgültig exekutiert. Der linksliberale Revolutionär Robert Blum wurde öffentlich hingerichtet. Das Scheitern einer demokratischen Revolution, für die Blum an vorderster Front kämpfte.
 
Erst 70 Jahre später, am 9. November 1918, startete der nächste Versuch. Damals rief der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann von einem Fenster des Reichstags-Gebäudes eine deutsche Republik aus. Am selben Tag, jedoch einige Stunden später, verkündete Karl Liebknecht, am Berliner Stadtschloss eine deutsche sozialistische Räterepublik.

III.
Vor genau hundert Jahren, am 9. November1923, rottete sich in München ein bis dahin kaum bekannter sektenhafter Haufen zu einem Putschversuch zusammen mit einem damals noch vielfach belächelten Führer namens Adolf Hitler. Vor der Münchner Feldherrenhalle scheiterte der Versuch. In der später sehr viel erfolgreicheren Nazi-Zeit, die nicht durch einen Putsch, sondern durch eine demokratische Wahl zustande gekommen war, wurde der 9. November zum nationalen Feiertag. An diesem Tag wurde der „Blutzeugen der Bewegung“ feierlich gedacht. Auf einer solchen Feier, am Abend des 8. November 1939, fand das gescheiterte Bomben-Attentat des Georg Elser auf Hitler im Münchner Bürgerbräukeller statt.

IV.
Und noch ein 9. November, der schlimmste von allen deutschen Novembern: Die Nacht der anti-jüdischen Pogrome in Deutschland am 9. November 1938.

Lang, lang ist’s her. Und leider, leider heute wieder allzu nah. In meiner letzten Kolumne habe ich auch über die gräßlich aktuelle Angst jüdischer Mitmenschen in diesem Lande berichtet.

Hier will ich einen früheren Text zum Thema Antisemitismus zitieren, ein Kapitel aus meinem Buch „Wir sind, was volkt“ aus dem Jahr 1993. Ich schildere darin, wie ich als ein deutscher Knabe von vielleicht neun Jahren, aus dem Mund seiner Mutter etwas über die Nazis, die Juden und den 9. November erfuhr. Das Kapitel trägt den Titel „Eine deutsche Mutter spricht – erster Geschichtsunterricht in einer Weddinger Wohnküche“.

V.
Ich höre stumm dem Sprechen meiner Mutter zu. Ich höre sie mit einer ungewohnten Stimme reden, fast warm, eine Stimme, die nach Wachstuch und Pfefferminze riecht.

Sie sitzt am Küchentisch. Ihre doppelt beringte Witwenhand streicht mit sachter Geste über das blasse Grün der wächsernen Tischdecke. Vom Hof her das letzte Schummerlicht des Tages. In dieses Dämmern hinein spricht sie. Ihre tiefgefurchte Miene, dieses schwer durchkämpfte Gesicht von gerade mal 43 Jahren, ist ungewohnt weich, als würde sie den Erinnerungen gestatten, aus diesen Furchen emporzutauchen. Sie ist wieder jung und erzählt sich selber etwas Freundliches aus der Vergangenheit. Sie erzählt von Adolf. Sie lacht leise:

„Ich fand ihn schön, kann man sagen, was man will, darf man sowieso nicht mehr zugeben, doch ich fand ihn schön, auch mit diesem kleinen Bart unter der Nase. Rotzbremse, hat euer Vater gesagt, aber dem Adolf stand er. Sicher, einige haben am Anfang noch gesagt, das sähe komisch aus, naja, weil der Chaplin, dieser Komiker, auch so einen Nasenbart hatte. Aber das war nur am Anfang, hinterher hat das keiner mehr komisch gefunden, ich sowieso nicht, obwohl ich Bärte eigentlich nicht mag, aber bei ihm sah das nach was aus….

Sie nickt sich selber zu: „Heute klingt das ja albern, aber ich habe geweint als die Hildegard Lehmann einmal sagte, das sei doch ein Verbrecher, der Hitler. Das war kurz nachdem die SA das Kaufhaus Tietz in der Chausseestraße ausgeräumt hatte, ja, da wo heute Hertie ist. Her-Tie, verstehst du, so hieß der Besitzer, also abgekürzt: Hermann Tietz. Das war natürlich ein Jude. Das waren ja alles Juden vor Dreiunddreißig, die Juweliere, die Rechtsanwälte, die Kaufhausbesitzer. Wo man hinguckte: Juden, Juden, Juden.“

Jetzt lächelt sie nicht mehr. Ihre Stimme klingt plötzlich energisch: „Als Deutscher hattest du gar keine Chance mehr, irgendwas zu werden. Auch bei uns im Krankenhaus, die Chefärzte und Oberärzte, aaalles Juden. Als deutscher Arzt kamst du da gar nicht richtig hoch, das habe ich als Lernschwester schon mitgekriegt. Und jedenfalls der Tietz, das war auch ein Jude, deshalb hat man wohl nach dem Krieg nicht mehr auf den Namen zurückgegriffen. Tietz, da hört man das doch irgendwie raus, bei Hertie merkt das keiner mehr – außer man weiß es eben.“

Sie spricht wieder leiser: „Und dort haben die SA-Leute Klaviere aus dem Fenster auf die Straße des Kaufhauses runtergeschmissen, Reichskristallnacht war das, achtunddreißig. Richtige Klaviere, das muss man sich mal vorstellen, aber diese SA-Leute, die hatten ja keine Kultur, das waren mehr Proleten. Und da sagt mir doch diese Bekannte, Hildegard Lehmann, die sagt ganz ungeniert, der Hitler ist ein Verbrecher. Wir waren bei ihr eingeladen zum Geburtstag und da sagt die das. Ich meine, das war ja nicht ohne Risiko für die Frau, wir hätten sie ja anzeigen können, alles konnte man damals auch nicht sagen, aber wir hätten das natürlich nie gemacht, sie angezeigt, meine ich. Sie hat sich jedenfalls ganz schön erschrocken, als ihr das rausgerutscht war und ich auf einmal losweinte.“

Ein Kopfschütteln, verständnisinnig: „Ich habe auf der Couch gesessen und die Tränen liefen mir über die Backen. Ich saß da und habe geheult und geheult, weil sie gesagt hat, der Adolf sei ein Verbrecher, und weil ich das natürlich auch nicht richtig fand, die Sache mit den Klavieren und überhaupt – na ja, das mit den Juden. Die mussten dann irgendwann diesen Stern tragen und man durfte sie nicht mehr grüßen, das war für uns ja auch nicht einfach, denn wir kannten da ein sehr nettes jüdisches Ehepaar, mit denen waren wir fast befreundet, die wohnten ein paar Häuser weiter, Nummer 5 glaube ich. Er war auch Rechtsanwalt, naja, ein jüdischer Anwalt wie gesagt, andere gab’s ja kaum, aber ein sehr, sehr feiner Mensch, sehr sympathisch. Heilmann hieß der, ausgerechnet, darüber haben wir manchmal ein bisschen gelästert, ein Jude, der Heilmann heißt, aber nett war der, er hat uns auch mal geholfen, als wir mit dem Hauswirt Ärger wegen der Miete hatten, da hat er uns einen Brief aufgesetzt, ohne das zu berechnen, also, dem haben wir doch nie was Schlechtes gewünscht. Und auf einmal sollten wir den nicht mehr grüßen, aber ich habe das natürlich gemacht, immer habe ich ihn gegrüßt und mir ist nichts passiert, gerade wo es heute immer heißt, man wäre damals total unterdrückt gewesen. Aber eines Morgens waren die dann auch weg, verschwunden, und keiner wusste wohin.“

Kurzes Bedenken: „Arbeitslager hieß es, aber mehr wusste man nicht, und Arbeit hat schließlich noch keinem geschadet, sagten wir immer, und das stimmt ja auch. Ich habe auch immer gearbeitet, nicht so wie andere Frauen, die faul zu Hause herumsitzen, das hätte ich nie gewollt, auch früher nicht, heute geht’s ja sowieso nicht anders. Jedenfalls, was ich sagen wollte, ich saß da und heulte, weil ich dachte, davon hat der Führer nichts gewusst, dass die da bei Tietz Klaviere aus dem Fenster schmeißen, denn sowas ist doch barbarisch, muss man sich mal vorstellen: richtige Klaviere. Das muss dem Führer irgendwer mal sagen, damit sowas aufhört…“

Und wieder nickt sie sich zu: „Diese SA-Leute waren ja keine richtigen Nazis, die gab es sowieso selten, ich meine so richtige Edelnazis, das sind feine Menschen sage ich dir, die noch heute zu ihrer Überzeugung stehen, auch wenn sie sich in Hitler geirrt hatten, denn das mit den Juden war nun wirklich nicht richtig, das hätte nicht sein müssen, obwohl heute auch vieles übertrieben wird und keiner mehr darüber redet, wie auf einmal die Arbeitslosen weg waren von der Straße und die Autobahnen gebaut wurden und es gab keine Verbrecher mehr, da konnte man als Frau auch am Abend im Park spazieren gehen, wir haben ja seit vierunddreißig hier im Wedding an den Rehbergen gewohnt…“

Ihre Hand fährt über das Wachstuch auf dem Tisch als wolle sie lästige Erinnerungs-Krümel wegwischen: „Naja, heute komme ich mir natürlich schön blöd vor, dass ich damals geheult habe, alles wegen Adolf. Mein Gott!“

VI.
Tscha, das war wieder einmal ein langer Satire-Letter, der eher nicht satirisch war. Doch keine Sorge: Das wird sich bei den nächsten Ausgaben meiner Elaborate wieder ändern. Ich bin und bleibe ein satirischer Fiesling. Hier sitze ich, ich kann gar nicht anders – jedenfalls nicht auf Dauer.